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  • Der Vater der modernen Automobilsicherheit wurde vor 100 Jahren geboren
  • Der Mercedes-Ingenieur revolutionierte die passive Pkw-Sicherheit
  • Wegbrechende Erfindungen hatten ihre Weltpremiere bei Mercedes-Benz
  • Barényi erhielt mehr als 2500 Patente für seine Entwicklungen

„Der Stern Ihrer Sehnsucht.“ Es ist Anfang 1939 als der damals 32-jährige Ingenieur Béla Barényi dieses Werbeplakat der Frankfurter Mercedes-Niederlassung sieht und davon träumt, dass auch seine Sehnsucht in Erfüllung geht: Bei Mercedes-Benz, der Marke mit dem Stern, zu arbeiten.

Sieben Jahre zuvor hatte er schon einmal an eine Stuttgarter Tür geklopft: In der Kronenstraße 24 bewarb er sich damals bei Ferdinand Porsche. Der war von 1923 bis 1926 Entwicklungschef und Vorstandsmitglied der damaligen Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) und bis 1928 in den gleichen Funktionen bei der Daimler-Benz AG tätig. Er hatte 1930 in Stuttgart ein eigenes Konstruktionsbüro eröffnet. Arbeit hatte Porsche aber nicht für Barényi.

So richtet er 1938 eine Bewerbung an den Mercedes-Chefkonstrukteur Max Wagner. Doch auch hier erntet er eine Absage. Es folgt ein weiteres Jahr der Arbeitssuche, bis Barényi Kontakt zu seinem ehemaligen Kollegen Karl Wilfert aufnimmt, mit dem er Jahre zuvor bei Steyr in Österreich gearbeitet hatte. Wilfert, damals Entwicklungsleiter für Karosserien und später Direktor der Pkw-Entwicklung, verhilft Barényi zu einem Vorstellungsgespräch beim Vorstandsmitglied Dr. Wilhelm Haspel. Karl Wilfert schärft seinem Freund ein, nicht länger als zwei Minuten zu reden; wichtige Leute haben ja nicht unbegrenzt Zeit, manchen fällt auch das Zuhören schwer und speziell Haspel - das ist bekannt - ist kein Freund langer Reden.

Doch in zwei Minuten auf die Frage des Vorstands nach dem Automobil der Zukunft zu antworten, das ist schier unmöglich. Es folgen 22 atemlose Barényi-Minuten, die vor allem mit den Automobilen der damaligen Zeit hart ins Gericht gehen und aus ihren Fehlern und zahlreichen Schwächen Ideen für die Zukunft ableiten. „Sie machen alles falsch“, poltert Barényi los und erläutert detailliert, wie man seiner Meinung nach Lenkung, Lenksäule, Lenkrad, Fahrgestell und Karosserie konstruieren muss, um den Auto-Insassen bessere Sicherheit zu bieten.

Wilhelm Haspel lässt sich überzeugen. Er stellt den arbeitslosen Visionär ein und begründet diese Entscheidung mit den Worten: „Ein Haus wie Daimler-Benz kann nicht von der Hand in den Mund leben. Herr Barényi, Sie denken 15 bis 20 Jahre voraus. Sie kommen in Sindelfingen unter einen Glassturz. Was Sie erfinden, kommt direkt in die Patentabteilung.“ Das war sozusagen ein Freibrief für den kreativen Denker, denn losgelöst von den Zwängen der Serienentwicklung kann er nun seine Ideen entwickeln und zu Papier bringen. Am 1. August 1939 tritt er seine Stelle im Mercedes-Werk Sindelfingen an.

Berufsweg: Von Wien über Paris und Berlin nach Sindelfingen
Vor genau 100 Jahren, am 1. März 1907, erblickte Béla Barényi in Hirtenberg bei Wien das Licht der Welt. Schon als Kind erlitt er eine Hüftgelenkentzündung, die ihn zeitlebens begleitete und beim Gehen stark behinderte. Trotz dieses Leidens ist der junge Barényi ein aufgeweckter Bursche, der sich für alles Technische interessiert - vor allem für Autos. Die Passion wird zum Beruf und später zur Berufung: Schon nach dem Studium des Maschinenbaus, das er „mit Vorzug“ abschließt, macht er durch Entwicklungen für eine bessere Aufprallsicherheit der Automobile auf sich aufmerksam.

Seine Vorstudien widmete er vor allem der Verbesserung der Lenkung. „Darüber habe ich mich stets am meisten geärgert“, sagt Barényi 1994 bei einem Interview. „Wenn ich mich recht entsinne, steckte in diesem Detail die Keimzelle für mein ganzes späteres Wirken.“ Der Stein des Anstoßes war ausgerechnet das Lenkrad eines Automobilkonstrukteurs, den Barényi als genialen Ingenieur besonders schätzte: Henry Ford. In seinem weltberühmten T-Modell waren die Speichen des Lenkrads laut Barényi „wie bei einem Spieß nach oben aufgebogen in Richtung Brust“.

Der junge Ingenieur wird nach seinem Studium 1928 Konstrukteur bei Steyr, wo er den gleichaltrigen Karl Wilfert kennenlernt. Wilfert wechselt 1929 von Steyr zur Wiener Mercedes-Niederlassung und wird noch im selben Jahr als Assistent von Chefkonstrukteur Hans Nibel nach Sindelfingen in die Versuchsabteilung von Mercedes-Benz berufen.

Barényi arbeitet nach seinen Steyr-Jahren zunächst für die Österreichische Automobil-Fabrik AG (ehemals Austro-Fiat) und wechselt nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit 1934 zu den Adlerwerken in Frankfurt/Main. Im selben Jahr stellt ihn die Gesellschaft für technischen Fortschritt (GETEFO) in Berlin ein, in deren Auftrag er unter anderem an der Entwicklung des Silentblocks zur Motorlagerung mitarbeitet. Im Oktober 1935 schickt die GETEFO ihren jungen Mitarbeiter nach Paris, wo er 1936 zur Société de Progrès Technique (SOPROTEC) wechselt. In Paris lernt er auch seine spätere Frau Maria Kilian kennen.

„Zellenfahrzeug“: Vorstudie zum Automobil mit Knautschzonen-Karosserie
Im Jahre 1937 kehrt er nach Berlin zurück, wo er das „Zellenfahrzeug“ konzipiert, dessen einzelne Abschnitte auf mechanischen Belastungen unterschiedlich reagieren: steif in der Mitte, plastisch verformbar an Front und Heck. Das ist quasi die Grundlage der Karosserie mit Sicherheitszelle und Knautschzone, die jedoch dem damals üblichen Streben nach einheitlich steifen Karosserien widerspricht.

Bereits im Januar 1937 meldet Barényi das Patent für dieses „Kraftfahrzeug mit in drei Teile unterteiltem Aufbau“ an. Ergänzungen und Weiterentwicklungen folgen in den nächsten Jahren.

In der Holzbaracke am Rande des Sindelfinger Mercedes-Werks setzt Béla Barényi seine Arbeiten fort. Schon sein erstes Projekt macht deutlich, dass mit dem jungen Ingenieur die Epoche der passiven Sicherheitstechnik beginnt: Er entwickelt einen neuartigen Plattformrahmen für das Mercedes-Benz 170 V Cabriolet (Baureihe W 136). Diese Bodengruppe ist nicht nur weniger anfällig für Schüttelschwingungen als der serienmäßige X-Ovalrohrrahmen, sondern bietet auch einen besseren Schutz für die Insassen beim Seitenaufprall.

Wegen seiner Gehbehinderung zieht man Barényi nicht zum Kriegsdienst ein, er muss Daimler-Benz jedoch am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Vorschriften der Alliierten verlassen. 1948 meldet er ein gewerbliches Ingenieurbüro an. Doch im Oktober desselben Jahres kann er nach Sindelfingen zurückkehren.

„Terracruiser“: Sechssitzer mit Aufprallzonen an Front und Heck
Im Gepäck hat der Ingenieur zwei wegweisende Studien, die vor allem 1945 und 1946 entstanden waren: die Konzepte „Terracruiser“ und „Concadoro“. Darin verbindet Barényi seine Visionen der passiven Sicherheit mit zukunftsweisenden Karosserieentwürfen. So hat der sechssitzige „Terracruiser“ eine strukturell sehr feste Fahrgastzelle in der Mitte. Sie ist elastisch verbunden mit je einer plastisch verformbaren Crashzelle an Front und Heck, die bei einem Unfall kinetische Energie aufnehmen kann.

Ähnliche Merkmale weist auch die als Dreisitzer entwickelte Studie „Concadoro“ auf. Die Karosserie ist in dreiteiliger Zellenbauweise mit schwenkbarer Kanzel über der einzigen Sitzreihe gefertigt. Der Entwurf hat bereits ein Lenkrad mit Prallplatte und eine Sicherheitslenksäule; die Scheibenwischer „parken“ in Ruhestellung versenkt.

Der Ingenieur drängt darauf, seine Ideen in der Serie zu verwirklichen. So erhält die „Ponton“-Modellreihe W 120 im Jahre 1953 eine Bodenanlage, die einen hohen Schutz beim Seitenaufprall bietet. Damit setzt Barényi endlich seinen 1941 patentierten Plattformrahmen in einem Serienfahrzeug um. Gleichzeitig arbeitet er daran, aus seinen visionären Entwürfen eine serienreife Sicherheitszelle für Personenwagen zu entwickeln. Der erste Schritt dazu ist das 1951 angemeldete und im Januar 1952 erteilte Patent für ein „Kraftfahrzeug, insbesondere zur Beförderung von Personen“. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die zur Serienreife gebrachte Karosserie mit gestaltfester Fahrgastzelle und Knautschzonen.

Der erste Mercedes-Benz, dessen Karosserie nach diesem Patent entwickelt wird, ist die Mercedes-Modellreihe W 111 von 1959, die legendäre „Heckflossen“-Limousine. Die unterschiedliche Plastizität der Karosserie erreicht Barényi vor allem durch die Gestaltung der Längsträger: Während diese in der Wagenmitte gerade ausgeführt sind und so zusammen mit den Blechen einen stabilen Sicherheitskäfig ergeben, sind die Träger an Front und Heck gebogen. So verformen sie sich bei einem Unfall, nehmen dabei einen Teil der Kollisionsenergie auf und schützen die Insassen vor der vollen Wucht des Aufpralls.

Während der Arbeit an diesem Typ steigt Barényi im Unternehmen auf: 1953 wird er in die Entwicklungsabteilung versetzt, 1955 ernennt ihn die damalige Daimler-Benz AG zum Leiter der neuen Abteilung Vorentwicklung.

Sicherheitslenkrad: Verformbares Element gegen den „Lanzeneffekt“
Die Sicherheitskarosserie des Typs W 111 ist nicht das einzige Merkmal, das Béla Barényi zur Entwicklung der Modellreihe beigetragen hat: In der Limousine hat auch das Sicherheitslenkrad Premiere. Es zeichnet sich durch eine großflächige Prallplatte und eine Lenksäule mit plastisch verformbarem Element zwischen Pralltopf und der eigentlichen Lenksäule aus. Diese dämpfenden Teile sollen bei einem Unfall den Fahrer schützen. Denn bei früheren Fahrzeugen mit starrer Lenksäule und nicht gepolstertem Lenkrad, so weiß Barényi, hat es immer wieder schwere Verletzungen durch den sogenannten „Lanzeneffekt“ gegeben. Dieser tritt auf, wenn sich bei einem Frontalaufprall die Lenksäule dem Fahrer entgegenschiebt.

Mit der Aufteilung der Lenksäule unternimmt er einen weiteren wichtigen Schritt hin zur modernen Sicherheitslenkung. Von der reinen Teleskop-Lenkstange hält Barényi dagegen wenig: Bei einem Frontalaufprall schiebt sich die Teleskop-Lenkstange zwar im Idealfall zusammen. Aber bei seitlichem Druck kann die Konstruktion schnell ihre Flexibilität verlieren. Als Alternative erfindet Barényi daher die „Sicherheitslenkwelle für Kraftfahrzeuge“. Im Jahre 1963 wird diese Technik patentiert, bei der ein verdrehfestes, aber knickschwaches Wellrohr als Verbindung zwischen den Teilen der Lenksäule dient. Bei einem Unfall kann dieses Bauteil in mehrere Richtungen nachgeben und so verhindern, dass die Lenksäule wie eine Lanze in den Passagierraum getrieben wird. Als vollständiges System hat diese Sicherheitslenkung 1976 in der damaligen E-Klasse (Modellreihe W 123) Premiere.

Insgesamt mehr als 2500 Patente hat Béla Barényi für seine Erfindungen erhalten, die meisten davon beschreiben Innovationen und Verbesserungen für Automobile. Oft dauert es allerdings mehrere Jahre, bis die genialen Entwürfe serienreif sind. So hat der Ingenieur bereits 1951 einen versenkbaren Scheibenwischer entworfen, der Fußgänger bei einem Unfall mit Personenwagen vor Verletzungen schützen kann. Eingebaut wird das System erstmals 1979 in die S-Klasse der Modellreihe W 126.

Die besonders stabile Dachkonstruktion, die Barényi für einen Versuchswagen der Mercedes-Modelleihe W 111 („Heckflosse“) entwirft, wird dagegen schon kurz darauf als Hardtop des neuen Mercedes-Benz SL 230 (Modellreihe W 113) realisiert. Das charakteristische Dach, das Stabilität mit Ästhetik vereint, verleiht dem Sportwagen den Namen „Pagode“.

Rechtsstreit: Prozess über die Erfindung des Volkswagen-Konzepts
Während Barényis Erfindungen aus der Zeit bei Mercedes-Benz international als Meisterleistungen anerkannt werden, bereitet dem Ingenieur ausgerechnet ein Entwurf aus Studienzeiten in den Fünfzigerjahren großen Ärger: Sein Plan für einen „kommenden Volkswagen“ nimmt Ende der Zwanzigerjahre bereits zahlreiche Details vorweg, die Ferdinand Porsche später in seinem Volkswagen vorstellt. Doch in mehreren Publikationen wird 1951 der Anspruch Barényis als geistiger Urheber des Volkswagen-Konzepts bestritten und der Stuttgarter Ingenieur sogar als Plagiator beleidigt. Um seinen Ruf zu wahren, geht Barényi gegen diese Äußerungen vor Gericht. Letztendlich einigte man sich durch einen Vergleich.

Nach seiner Pensionierung 1972 und dem Tod seiner Frau im Jahr 1980 widmet sich Barényi konsequent der Erweiterung seines Archivs. In dieser Zeit (bereits 1967 erhielt er die Rudolf-Diesel-Medaille des Deutschen Erfinderverbandes) wird der Erfinder und Pionier der passiven Sicherheit immer wieder für sein Lebenswerk ausgezeichnet: 1981 erhält er den Aachener und Münchener Preis für Technik und angewandte Naturwissenschaften; 1986 ehrt ihn das Deutsche Museum in München mit einer Sonderausstellung: „Barényi – und sein Konzept zum kom-menden Volkswagen von 1925“. Im Jahr darauf folgt zum 80. Geburtstag die Sonderausstellung „Béla Barényi, Automobilpionier“ im Deutschen Museum. 1987 erhält er die Ehrenplakette der Stadt Sindelfingen und die Ehrenbürgerschaft von Terracina. Barényis Portrait wird in die Erfindergalerie des Deutschen Patentamtes in München aufgenommen, und das Technische Museum Wien widmet dem gebürtigen Österreicher mehrere Vitrinen. 1989 ernennt ihn Österreich zum Professor ehrenhalber, und die Stadt Baden verleiht ihm den Kulturpreis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaft.


1987 erhält Béla Barényi die Ehrenplakette der Stadt Sindelfingen

Die weltweite Bedeutung seiner Entwicklungen unterstreicht schließlich 1994 die Aufnahme Barényis in die „Automotive Hall of Fame“ in Dearborn, USA. Damit steht er in einer Reihe mit Automobilpionieren vom Range Gottlieb Daimler und Karl Benz. Béla Barényi, der 1995 das Bundesverdienstkreuz erhält, stirbt am 30. Mai 1997 im Alter von 90 Jahren in Böblingen.

An den Pionier der passiven Sicherheit erinnern Ehrentafeln in Deutschland, Österreich und Italien, vor allem aber auch der 2005 erstmals vergebene Béla-Barényi-Preis. Bosch und die österreichische Arbeitsgemeinschaft der Motorveteranen zeichnen damit besonders verdiente Förderer der automobilen Traditionspflege aus.
Fotos: DaimlerChrysler

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