Facebook
  • Liebe macht blind
  • Eine der sechs Sonderschauen der AMI 2007 in Leipzig ist den Fügeltürern gewidmet

In der Glashalle des Geländes werden 30 als sehenswerte Fahrzeuge aus acht Ländern gezeigt, darunter Modelle von Lamborghini, der Mercedes Benz SLR McLaren, der Spyker C8, der TS01 aus der französischen Kleinserienmanufaktur Technical Studio, der K-1 von der slowakischen Firma Attack und der Yes Roadster aus Sachsen. Im Bereich der legendären Fahrzeuge darf natürlich auch der Klassiker Mercedes 300 SL nicht fehlen. Zum letztgenannten Modell hier eine Lesegeschichte.


Mercedes-Benz SLR in der AMI-Sonderschau über Flügeltürer
Foto: Auto-Reporter/Manfred Zimmermann

Schicksal eines Reisenden: Einsamkeit im Hotelzimmer. Nur heute ist alles anders. Auf dem Bett liegt eine Jugendliebe, flott, stramm und sexy wie immer: Gullwing, Möwenflügel, Flügeltürer. Erst vor ein paar Monaten haben wir unsere Liebe auf Mallorca ausgelebt. Und das hatte gar nichts von Massentourismus, von All-inclusive oder einem Last-Minute-Angebot. Das war eine zärtliche Begegnung, voller Respekt nach all den Jahren und ein unerwarteter Rausch.

Jetzt liegt sie wieder vor mir, leider nur in Papier als Foto auf einem Prospekt von Mercedes-Benz Classic mit dem Titel "On the wings of Originality", natürlich in Englisch, denn wer in Deutschland konnte sich Mitte der Fünfziger schon einen Wagen für rund 30 000 Mark erlauben. 1400 Stück wurden von ihr, meiner Jugendliebe, in die Welt gesetzt. Ein Jammer, dass die meisten davon in den USA an völlig falsche Käufer gebracht worden sind.


Mercedes-Benz 300 SL von 1954
Foto: Auto-Reporter/Mercedes-Benz

Ich wäre der richtige gewesen. Aber ich war damals noch mit Dora beschäftigt, jener berühmten Dame aus der Erstklässler-Fibel. Meine Eltern betrieben damals einen kleinen Lebensmittelladen und zählten Heringe im Fass, während ich meine Lebensaufgabe darin sah, sonntags für einen Groschen Senf in mitgebrachte Gläser zum pumpen. Ein Silberpfeil vor der Tür hätte diesem Geschäft sicher nicht geholfen.

Mein Vater, heute 86 Jahre alt, mag denselben Traum gehabt haben wie ich heute. Aber ich habe ihm einiges voraus. Er hat die Mövenflügel bestenfalls mal gestreichelt, ich habe sie besessen, für eine kurze, leidenschaftliche Begegnung.

Ich erinnere mich an die Beklemmungen, meiner Jugendliebe nahezutreten. Ein erster Kuss ist einfacher als die Überwindung, dieser Diva des Automobilbaus an den versenkten Türgriff zu gehen. Was ist, wenn sie einen nicht mag und ein gemeinsames Erlebnis verweigert? Und - schlimmer noch in meinen Jahren und bei meinem Umfang - was ist, wenn man nicht in sie hineingleiten kann?


Mercedes-Benz 300 SL von 1954
Foto: Auto-Reporter/Mercedes-Benz

Die Schwellenangst ist berechtigt, denn der Mercedes-Benz 300 SL hat seine Flügeltüren nicht umsonst. Sie erst ermöglichen den Einstieg über die hohen und breiten Schweller über dem Gitterrohrrahmen vom Entwicklungschef Uhlenhaut . Das Lenkrad lässt sich nach oben klappen. Das gibt Mut. Der verlässt den frisch "baggernden" potentiellen Liebhaber meines Kalibers aber sofort, wenn er sieht, wie eng der Tunnel ist, in den er jetzt hineinschlüpfen soll. Aber es passt, selbst für einen "big guy". Natur und Autotechnik finden eben immer wieder einen Weg.

Aber wenns dann endlich einmal losgeht, gibts kein Halten mehr, denn die riesigen Trommelbremsen scheinen dem verwöhnten Scheibenbrems-Aktivisten von heute nicht wirkungslos. Das Heraushalten einer Hand zur Vergrößerung des Luftwiderstands scheint da der erfolgreichere Weg des Bremsen, wenn es an Kraft im Oberschenkel fehlt. Hier ist der ganze Mann gefordert. Er muss Schenkel und Unterleib voll einzusetzen, um nicht schon bei der ersten Kurve im Nirwana zu verschwinden und vorzeitig zum Ende eines berauschenden Erlebnisses zu kommen.

Wenns zur Sache geht und alle 215 Pferdchen des Drei-Liter-Sechszylinders in den Galopp übergehen sollen, dann erreicht der 300 SL nach zehn Sekunden die 100 km/h-Marke, einen Wert, den heute bereits jeder halbwegs motorisierte Diesel mühelos unterbietet. Und dennoch kann keiner dieses unbeschreibliche Fortissimo aus Motorgeräusch und Vortrieb toppen. Hier spielt eine Musik, wie sie durch noch mehr Leistung und noch mehr Sexappeal beim Design nur schwerlich übertroffen werden kann. Andere beschleunigen besser und erreichen höhere Geschwindigkeiten als die maximal 260 km/h meiner Jugendliebe. Aber keiner kommt erotischer zur Sache.


Mercedes-Benz 300 SL von 1954
Foto: Auto-Reporter/Mercedes-Benz

Was stören einen Fragen nach der Gestaltung des Cockpits, das für heutige Sportwagen immer noch als Vorbild dient? Wer fragt nach Sicherheitsgurten, Airbags, ESP und anderen Helfern, die einem die Freude am reinen Vergnügen zerstören? Normalerweise bin ich in dieser Hinsicht unerbittlich. Aber Liebe macht eben blind. Bei meiner Jugendliebe versagen solche rationalen Argumente. Hier zählt nur die Lust am puren und puristischen Auto.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten? Sicherlich nicht, denn wer möchte schon die Sicherheitselemente von heute missen, und wer könnte sich den SL heute noch leisten. Eigentlich muss man die Potenten bemitleiden, die sich den Nachfolger des SL kaufen. Sie bekommen nur eine Weiterentwicklung des einzig wahren 300 SL. Der Neue ist dann zwar deutlich schneller und sicherer und braucht weniger Kraftstoff pro PS, aber er ist nur ein Topauto von heute und wahrscheinlich sogar billiger als ein gut erhaltenes Exemplar des Oiginal-Flügeltürers.

So ist das, wenn man älter wird. Die Erinnerung an das erste Mal ist unauslöschlich, sagt man, selbst wenn man es erst ein halbes Jahrhundert zu spät erlebt. Dumm, dass einem Hotelzimmer und Prospekte immer wieder an versäumte Möglichkeiten erinnern. Möge die nächste Generation mehr Glück finden, mit dem Auto, im Auto oder anderswo. (Auto-Reporter.net/Sm)

Copyright © 1998 - 2024 Agentur Autosport.at 
Der Inhalt dieser Seite mit allen Unterseiten unterliegt, soweit nicht anders vermerkt, dem Copyright der Agentur Autosport.at. Texte, Bilder, Grafiken sowie alle weiteren Inhalte dieser Seite dürfen, weder im Ganzen noch teilweise, ohne unsere vorherige schriftliche Zustimmung vervielfältigt, verändert, weitergeleitet, lizenziert oder veröffentlicht werden.


Impressum - Datenschutz - Cookie Policy

Zum Seitenanfang