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  • Als der VW Käfer 1950 hydraulisch betätigte Bremsen erhielt, gehörte die mechanische Bremsbetätigung über Seilzüge oder gar Gestänge endgültig der Vergangenheit an.
Als der VW Käfer 1950 hydraulisch betätigte Bremsen erhielt, gehörte die mechanische Bremsbetätigung über Seilzüge oder gar Gestänge endgültig der Vergangenheit an. Die nahezu reibungsfreie Bremskraftübertragung durch eine Flüssigkeit ist noch heute weltweiter Standard aller Automobilbremsen. Sie überstand auch den Wechsel von der Trommel- zur Scheibenbremse, ließ sich mit dem ABS (Bosch 1978) veredeln und durch die Elektronik mit Fahrdynamiksystemen vernetzen. Nachteilig war freilich, dass durch die zwei Medien - Hydraulik und Elektronik - das Bremssystem immer aufwendiger und teurer wurde. Zudem ließen sich die prinzipiellen Nachteile wie relative Trägheit nicht beseitigen, erkennbar an der niedrigen Regelfrequenz des ABS, die sich im "Flattern" des Bremspedals und Rattern der Radbremsen auch dem Fahrer mitteilt. Abhilfe sollte EHB bringen, das elektrohydraulische Bremssystem. Von Bosch entwickelt und von Mercedes eingebaut, erwies sich das System durch offensichtliche Qualitätsmängel als Fiasko, das beide Hersteller viel Geld kostete. Dabei war die Idee gut, einen Teil der Aufgaben der konventionellen Hydraulik an elektrische Bauteile zu übertragen.

Aber warum nicht alles elektromechanisch bewältigen und auf die Hydraulik vollständig verzichten? Ideen dazu gibt es seit einigen Jahrzehnten, doch erst aus der Zusammenarbeit der TU Darmstadt unter Bert Breuer und des Bremsenherstellers ATE entstand ein erstes realitätsnahes System, mit dem Karl-Heinz Bill 1989 promovierte. Dieses System, bei dem die Radbremsbacken durch einen Elektromotor über eine Spindel zusammengedrückt werden, wird bei der inzwischen zum Continental-Konzern gehörenden ATE weiter verfolgt. Kein Wunder also, dass man in Frankfurt weniger erfreut war, als der Bremsen-Außenseiter Siemens VDO mit einem weiteren System auf den Plan trat, mit der von Bernd Gombert erfundenen Keilbremse. Hat man bei ATE schon Schwierigkeiten, die Automobilhersteller vom eigenen System zu überzeugen, kommt nun einer daher, der behauptet, es besser zu können!

Beim ATE- System wirkt die Leistung des Elektromotors über ein Getriebe und eine Spindel senkrecht auf die Bremsbeläge wie vorher der hydraulische Druck. Siemens VDO dagegen nutzt den Mitnahmeeffekt der sich drehenden Scheibe, der zur Selbstverstärkung führt. Dabei wird der "lose" Belag über schräge Rollenbahnen ähnlich wie bei einem Freilauf gegen die Scheibe gepresst. Der auch hier verwendete Elektromotor muss also über eine Spindel nur den Belag an die Scheibe heranführen und kommt mit wesentlich geringerer Leistung aus. Auch die Spindel mit ihrer Spindelmutter ist eine Erfindung Bernd Gomberts, sie arbeitet mit einem Planetensystem und erlaubt sehr geringe Gewindesteigungen bei sehr hohem Wirkungsgrad auch unter Last. Da der zugehörige Elektromotor blitzartig hochdreht, kann das System mit feinfühliger elektronischer Regelung arbeiten. Ein weiterer, sehr kleiner Elektromotor sorgt bei Belagverschleiß für stets gleichen Abstand des Belages von der Scheibe, während eine Blattfeder den Belag von der Scheibe löst, wenn die Bremse entlastet wird.

Bei Versuchen in Nordschweden auf Schnee, Eis und trockener Straße hat das System seine Tauglichkeit bewiesen, obwohl es erst 2010 serienreif sein soll. Besonders erfreulich ist, dass es kein Flattern des Bremspedals mehr gibt, wenn man in den ABS-Bereich hineinbremst. Durch die im Gegensatz zu konventionellen Systemen sehr hohe Regelfrequenz ist auch der Wechsel von Blockieren und Lösen an den Rädern nicht mehr zu spüren. Weniger geübte Autofahrer sind stets erschrocken, wenn sie zum ersten Mal in den Regelbereich des ABS geraten und glauben, am Auto sei etwas defekt. Wir wissen nicht, wie viele Unfälle deshalb zustande kamen, weil der Fahrer dann den Fuß vom Bremspedal nahm. Die Behauptung, Flattern und Rumpeln müsse sein, um den Fahrer zu warnen, ist blanker Unfug. Von einer Bremse erwarten wir, dass sie bis zum Blockieren der Räder lautlos und zuverlässig ihren Dienst verrichtet, mehr nicht.

Gegenüber konventionellen Systemen verkürzt die Keilbremse die Bremswege um rund zehn Prozent, was wir wegen der hohen Regelfrequenz gern glauben. Zudem braucht die Keilbremse Bremskraftverstärker oder Unterdruckpumpe nicht mehr, ebenso entfällt der ABS-Ventilblock der Hydraulik. Das ganze System wird also leichter und benötigt im Motorraum erheblich weniger Platz. Rohrleitungen und Schläuche für die Bremsflüssigkeit gibt es nicht mehr, sodass sich die Wagenmontage beim Automobilhersteller vereinfacht. Bei Siemens ist man der Ansicht, dass die Keilbremse gegenüber konventionellen Systemen zum gleichen Preis oder günstiger angeboten werden könne. Auch an einen Ausfall des Bordnetzes hat man gedacht und derzeit zwei kleine Lithium-Ionen-Akkus vorgesehen, von denen dann die Stromversorgung fürs Bremsen übernommen wird. Später soll ein solcher Akku ausreichen. Im gegenwärtigen Entwicklungszustand wiegt die Bremseinrichtung eines Rades allerdings noch rund zwei Kilogramm mehr als ein hydraulisches System. Da wartet also noch einige Arbeit auf die Ingenieure. Auch Überzeugungsarbeit, denn die seit einigen Jahren ungebremste Zunahme der Bordnetzbelastung zwingt die Automobilhersteller dazu, immer größere Batterien und Lichtmaschinen zu verwenden, obwohl es inzwischen Vorrangschaltungen gibt, die Spitzenbelastungen vermeiden helfen.

Durch den relativ geringen Stromverbrauch des Gombert-Systems wäre es bis zur oberen Mittelklasse mit den üblichen 12 Volt aus dem Bordnetz zufrieden, während das ATE-System durch seinen höheren Stromverbrauch nur für die Hinterachse geeignet sein soll. Bekanntlich müssen die Vorderachsbremsen bis zu 80 Prozent der Bremsleistung aufbringen, verlangen also beim ATE-System eine hohe elektrische Leistung, nicht aber bei der Keilbremse, die den Selbstverstärkungseffekt nutzt.

Nur ganz nebenbei wollen wir erwähnen, dass es auch andere Versuche gab, Keilwirkung und Selbstverstärkung für eine elektromechanische Bremse zu nutzen. Ein solches System entstand ebenfalls an der TU Darmstadt, doch haben wir seit acht Jahren nichts mehr davon gehört. Vermutlich waren Aufwand und Platzbedarf zu hoch. Wir sind jedoch sicher, dass Gomberts Keilbremse andere Spezialisten auf den Plan rufen wird, die diese Konstruktion zu übertreffen hoffen. Das ist nur gut so  der freie Wettbewerb hat schon immer für oft erstaunliche Neuentwicklungen gesorgt.

Warum wir hier so ausführlich über die elektromechanischen Bremsen berichten, ergibt sich aus der gegenwärtigen Situation. Denn der automobile Bereich von Siemens VDO steht vor Börsengang oder Verkauf  und Continental ist daran interessiert. Sollte es zu einer Vereinigung kommen, werden die Bremsenaktivitäten mit Sicherheit zusammengelegt. Dann wird es auf das technische Verständnis und die Weitsicht der leitenden Ingenieure ankommen, welchem System sie den Vorzug geben. Zunächst aber ist durch die Aktivität von Siemens VDO Bewegung in den Bremsenbereich gekommen. Und wir hoffen, dass niemand ein Interesse daran hat, ihn wieder einschlafen zu lassen. Durch die Lizenzvergabe an Bosch hat die Keilbremse eine breitere Entwicklungsbasis erhalten, die sich nicht mehr so einfach vom Tisch wischen lässt. (ar/PS/cb - Entnommen aus der aktuellen Ausgabe des Branchen-Informationsdienstes PS-Automobilreport)

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