MotoGP-Weltmeisterschaft 2007 - Michelin Wintertestfahrten
- Geschrieben von Dirk Hartung
- Kategorie: Motorradsport Rundstrecke
- „Wer nur 90 Prozent gibt, braucht erst gar nicht loszufahren“
- Kenny Roberts jr., Colin Edwards & Nicolas Goubert im Interview
„Wissen schon genau, welche Richtung wir einschlagen“
Zweifaches Ende einer Ära und doppelter Neubeginn: Wenn in der kommenden MotoGP-Saison die 990ccm-Protoypen den neuen 800ern Platz machen, wird auch am Michelin Kommandostand ein Wechsel stattfinden. Jean-Philippe Weber löst in der neuen Saison den langjährigen Motorrad-Rennchef Nicolas Goubert ab. Bevor der scheidende Rennleiter seine neue Position im Michelin Konzern antritt, schildert er, welche Herausforderungen der Wechsel der Motorenformel für Reifenentwicklung und Wintertests bereithält.
Verkehrte Welt: Während der Wintertestfahrten spulen die Top-Piloten der Motorrad-Königsklasse mehr Kilometer ab als in den 17 Saisonrennen 2006. Kein Wunder, werden doch zwischen Oktober und März die entscheidenden Grundlagen für den Erfolg gelegt. Vor der Saison 2007 erreicht das Testfieber einen neuen Höhepunkt, da alle in der MotoGP vertretenen Werke mit völligen Neukonstruktionen antreten. Das bedeutet auch für die siegverwöhnte Mannschaft von Motorrad-Renndirektor Nicolas Goubert und seines Nachfolgers Jean-Philippe Weber höchste Anstrengungen. Neben Reifenspezialist Goubert geben auch die Werksfahrer Kenny Roberts jr. (KR-Honda) und Colin Edwards (Yamaha) Auskunft über ihre Arbeit zwischen den Jahren.
Erfolgreicher Techniker und Manager:
Unter Führung von Nicolas Goubert gewann Michelin zehn Moto-GP-Titel
in zehn Jahren
Monsieur Goubert, wie geht Michelin üblicherweise bei den Wintertests
vor?
NG Wir konzentrieren uns zunächst auf Querschnitt und Größe
eines Reifens. Da diese Parameter am aufwändigsten zu verändern
sind, müssen sie so früh wie möglich feststehen. Wir nennen
den Teams die künftigen Dimensionen, und sie passen das Set-up der Bikes
darauf an - Bodenfreiheit, Getriebeübersetzung etc. Dann arbeiten wir
an der Konstruktion der Karkasse und erst zum Schluss an den Laufflächenmischungen.
Form, Größe und Konstruktion sind grundlegende Faktoren, während
du die Mischungen je nach Strecke individuell wählst. Wenn wir im Winter
verschiedene Mischungen testen, schauen wir nicht nur auf die Rundenzeit,
sondern experimentieren häufig, um möglichst viel zu lernen.
Wie legen Sie Profil und Dimension fest?
NG Auf Basis des Feedbacks unserer Fahrer und Teams sowie anhand unserer Simulationen
und Prüfstand-Ergebnisse. Wir beginnen mit Computer-Berechnungen. Wenn
wir z.B. die Kontaktfläche bei mittlerer Schräglage vergrößern
möchten, bauen wir einen virtuellen Reifen, messen die Kontaktfläche
bei 25 bis 40 Grad Schräglage und prüfen, wie die auftretenden Kräfte
den Querschnitt beeinflussen. Sind wir mit den Simulationsergebnissen zufrieden,
bauen wir einen Reifen und testen ihn auf dem Prüfstand, um sicherzustellen,
dass die realen Werte den berechneten entsprechen. Arbeitet der Reifen auf
der Rolle wie erwünscht, probieren wir ihn auf der Rennstrecke aus. Dieses
Programm beginnt schon im Sommer. Wir besitzen dann schon viele Daten verschiedener
Rennstrecken und wissen folglich sehr genau, welches Entwicklungsziel wir
für die nächste Saison verfolgen.
Einer von vielen wichtigen Parametern:
Temperaturverlauf über die Lauffläche eines Michelin Pilot Hinterreifens
In diesem Winter kommt die Umstellung auf die neuen 800ccm-Bikes
dazu …
NG Allerdings. Dieses Jahr ist vieles anders, weil jedes Team mit ganz neuen
Motorrädern antritt. Unsere MotoGP-Partner Honda und Yamaha haben uns
mitgeteilt, was sie von ihren 800ern erwarten, welchen Charakter die Bikes
haben werden und welche ungefähre Leistung. Das bringen wir zusammen
mit den Wünschen der Fahrer aus der abgelaufenen Saison. Dann legen wir
unsere Entwicklungsrichtung fest. So konnten wir bereits im November neue
Reifen für die 800er-Tests liefern.
Wie viele verschiedene Reifentypen testen Sie im Lauf des Winters?
NG An verschiedenen Querschnitten probieren wir nicht sehr viel aus, denn
es kostet eine Menge Zeit und Geld, einen neuen Reifen zu konstruieren. Dafür
nutzen wir lieber Simulationen. Vor der Saison 2006 haben wir nur zwei unterschiedliche
Hinterreifen-Profile getestet und schnell erkannt, welches das viel versprechendere
war.
Wie lange dauert es, einen Reifen mit geändertem Querschnitt
zu produzieren?
NG Ungefähr einen Monat. Man könnte das also über den Winter
leisten, doch sehr tiefgreifende Änderungen dauern noch länger.
Wir verfolgen Programme, die manchmal über Jahre laufen.
Und wie schnell könnten Sie eine neue Konstruktion liefern?
NG Auch das hängt davon ab, wie viel du ändern willst. Eine kleine
Modifikation in der Konstruktion können wir in wenigen Tagen umsetzen,
ein größeres Re-Design kann auch mal ein oder zwei Jahre brauchen,
bis es rennreif ist.
Wie gehen Sie bei Tests vor?
NG Wir vergleichen: zu den ersten Wintertests bringen wir die bekannten Profile
mit einer Mischung, von der wir wissen, dass sie im Grand Prix auf dem betreffenden
Kurs gut funktioniert hat. Schon nach wenigen Runden wissen wir, ob der Reifentyp
etwas taugt. Wenn die Fahrer sich damit wohl fühlen und Parameter wie
Verschleiß und Temperatur in Ordnung sind, fahren wir Renndistanzen,
denn die sind der Schlüssel zu Top-Ergebnissen. Eine halbe Sekunde pro
Runde ist mit einem neuen Querschnitt leicht zu finden, aber das bringt nichts,
wenn die Leistung nach ein paar Runden einbricht. Wenn die Distanztests gut
verlaufen, testen wir denselben Reifen auf anderen Strecken. Erst danach können
wir sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn ein Reifen auf einem Kurs
gut arbeitet, aber auf den nächsten beiden nicht, kannst du ihn gleich
beiseite legen.
„Reifentests sind das Wichtigste überhaupt“:
Kenny Roberts jr. widmet sich ausführlich der Arbeit mit dem „schwarzen
Gold“
Wie binden Sie die Fahrer ein?
NG Wir bitten sie, in ihren Aussagen so präzise wie möglich zu sein.
Grundsätzlich läuft das beim Testen genauso ab wie bei den Rennen.
Was zeichnet einen guten Testfahrer aus?
NG Vor allem muss er sehr schnell sein! Und richtig gutes Feedback bekommst
du nur von einem Fahrer, der sich auf seinem Motorrad wohl fühlt, Vertrauen
hat und nicht durch technische Probleme abgelenkt wird. Außerdem sollte
er ein sehr gutes Gefühl für das Verhalten des Bikes auf der Strecke
besitzen und - nicht zu vergessen - auch in der Lage sein, uns das verständlich
zu erklären. Valentino und Colin (Anm.: Rossi und Edwards, beide Yamaha
YZR-M1-Michelin) sind darin z.B. sehr gut. Auch Dani (Pedrosa, Repsol Honda
Team RC211V-Michelin) und Kenny (Roberts jr., Team Roberts KR211V-Michelin)
können präzise erklären und besitzen viel Erfahrung.
„Wer nur 90 Prozent gibt, braucht erst gar nicht loszufahren“
MotoGP-Reifentests aus Sicht des Fahrers
Kenny Roberts jr. und Colin Edwards gehören zu den versiertesten und
gefragtesten MotoGP-Testfahrern von Michelin. Was macht in den Augen der beiden
US-Boys einen guten Entwickler aus?
Kenny, warum bist Du ein guter Testfahrer?
KR Ich brauche immer viel Grip und gutes Verhalten beim Umlegen. Deswegen
verbringe ich sehr viel Zeit damit, die Reifen kennenzulernen. Ich bin darin
offenbar gut, gebe brauchbares Feedback. Du musst einfach versuchen, den Michelin
Jungs genau zu sagen, wie sich der Reifen beim Umlegen und Bremsen anfühlt,
welchen Grip er aufbaut, wie er slidet und so fort. Es geht darum zu verstehen,
wie ein Reifen arbeitet.
Mit Michelin zum besten MotoGP-Jahr des Teams:
Kenny Roberts jr. wurde auf der KR-Honda 2006 WM-Sechster
Wie wichtig sind die Wintertests dabei?
KR Wir probieren eine ganze Menge neuer Sachen über den Winter, aber
ich denke, Reifentests sind das Wichtigste überhaupt. Zusammen mit dem
Chassis-Set-up machen sie bestimmt 60 bis 70 Prozent der Testarbeit aus.
Warum ist Michelin in der MotoGP so erfolgreich?
KR Es scheint, als sei das ganze Unternehmen sehr motiviert und konzentriert
auf alles, was zum Erfolg benötigt wird. Sie wollen Weltmeisterschaften
gewinnen, sie wollen jedes Rennen gewinnen und sie wollen das Qualifying gewinnen.
Für Michelin ist MotoGP nicht nur eine technische Herausforderung, sondern
auch eine sportliche. Und sie besitzen immense Erfahrung.
Wie viele Reifen probierst du bei jedem Test aus?
KR Zwischen zehn und 30 pro Session. Wir fahren fünf bis sieben Runden,
um ein erstes Bild vom Reifen zu bekommen. Dann folgt je nach Ergebnis eine
Renndistanz.
Hinterreifen haben einen breiteren Grenzbereich, da das Sliden in
der MotoGP zum Standard gehört. Ist es schwieriger, das Limit eines Vorderreifens
herauszufinden?
KR In gewissem Sinn ist es sogar einfacher, ein erstes Gefühl für
die Charakteristik eines Vorderreifens zu gewinnen. Entscheidend ist das Umlegen
und Einlenken, und das fühlst du nicht, wenn du viel slidest. Ohnehin
rutscht du wenig mit dem Vorderreifen - zumindest nicht absichtlich.
Colin Edwards
Colin, was zeichnet einen guten Testfahrer aus?
CE Zuerst mal muss ein guter Fahrer wissen, was er will - sonst verzettelst
du dich schnell. Ich bin Rennfahrer, kein Ingenieur oder Aufhängungs-Guru,
also versuche ich, meinen Jungs die Eindrücke von der Strecke so gut
es geht zu übersetzen. Vieles am Testen ist einfach das Ausschließen
von Wegen, die nicht funktionieren.
Als Testpilot gefragt:
Yamaha-Werksfahrer Colin Edwards arbeitet seit vielen Jahren eng mit Michelin
zusammen
Wie schwierig ist es, mit einem neuen Reifentyp ans Limit zu gehen?
CE Mir fallen Reifentests am leichtesten, weil diese Dinger deine Verbindung
zur Fahrbahn sind und du meist innerhalb von ein oder zwei Runden sagen kannst,
ob ein Reifen besser oder schlechter funktioniert. In anderen Bereichen sind
manchmal nur schwer Unterschiede festzustellen. Aber einfach sind Reifentests
deswegen nicht. Du fährst 98 oder 99 Prozent, in manchen Runden auch
100, weil du nur so brauchbare Informationen gewinnst. Mit 90 Prozent brauchst
du erst gar nicht loszufahren.
Dir scheint das Testen mehr zu liegen als manch anderem. Wie kommt
das?
CE Nicht alle mögen es, Runde um Runde abzuspulen. Aber als ich in der
Superbike-WM fuhr, kniete ich mich richtig rein und fuhr drei Mal im Jahr
nach Ladoux, um auf der Michelin Teststrecke bei Clermont-Ferrand ein paar
tausend Runden zu fahren. Ich erkannte, wie groß unsere Fortschritte
waren. Ich glaube, wir fahren mehr Tests als Rennen, aber wenn du die Ergebnisse
siehst, ist es die Mühe allemal wert. Manchmal funktionieren die Sachen,
die wir ausprobieren, besser als das Ausgangsprodukt, manchmal nicht - dann
testest du eben die nächste Option. Auch wenn es sich bisweilen anfühlt,
als drehst du endlos Runden für nichts, sammelst du doch ständig
wichtige Daten. 90 Prozent meiner Tests drehen sich um die Reifen, was vor
allem durch die Langstreckentests kommt, wenn Michelin wissen will, ob ein
guter Reifen über die Distanz hält.