Altehrwürdig, aber kein bisschen altbacken: Nach dem Grand Prix der Türkei steht jetzt mit dem „Autodromo Nazionale di Monza“ wieder eine Traditionsstrecke auf dem Grand Prix-Kalender.
Von der jüngsten Grand Prix-Rennstrecke - dem Istanbul Park Otodrom - zum geschichtsträchtigsten Formel 1-Kurs: Die Königsklasse des Motorsports unternimmt in kaum 14 Tagen eine Zeitreise der besonderen Art. Nirgendwo auf der Welt wurden mehr Große Preise ausgetragen als im Königlichen Park von Monza. 55 Mal gastierte der Grand Prix-Zirkus seit Einberufung der Formel 1-Weltmeisterschaft 1950 auf dem heute 5,793 Kilometer langen „Autodromo Nazionale di Monza“. Nur ein einziges Mal - 1980 - blieb die Traditionspiste unberücksichtigt, als der Große Preis von Italien nach Imola verlegt wurde.
Die Fans nennen den 1922 erbauten Kurs ehrfürchtig die „magische Strecke“ - und das liegt nicht nur an der malerischen Lage inmitten des „Parco Reale“. Nirgendwo erreichen die Formel 1-Boliden höhere Geschwindigkeiten als auf den langen Geraden von Monza, obwohl nachträglich eingefügte Schikanen wie die „Variante della Roggia“ oder die „Variante Ascari“ die Vollgas-Orgie inzwischen portionieren. Noch immer gilt dieses Asphaltband als absolute Highspeed-Strecke. Erst 2002 drehte Juan Pablo Montoya am Steuer seines Michelin-bereiften Williams-BMW während des Qualifyings mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 259,823 km/h die schnellste Runde in der Geschichte der Formel 1. Ein Rekord, der in diesem Jahr eventuell verbessert werden könnte. Mit einem Spitzentempo von 372 km/h überbot der australische Michelin-Partner Mark Webber vergangene Woche bei Testfahrten in Monza bereits den bisherigen Höchstgeschwindigkeitsrekord von 369,9 km/h, 2004 aufgestellt von Antonio Pizzonia.
Dass diese irren Tempi speziell für Motoren und Bremsen eine hohe Belastung darstellen, versteht sich fast von selbst. Über Sieg oder Niederlage entscheiden in Monza jedoch die aerodynamischen Qualitäten der Formel 1-Boliden, ihre Reifen und das Potenzial des Chassis. Um den Luftwiderstand zugunsten möglichst hoher Geschwindigkeiten auf den Geraden zu minimieren, rücken die Monoposti mit den flachsten Flügeleinstellungen der gesamten Saison aus. Dies bedeutet aber auch, dass die Bodenhaftung in den schnellen Kurven wie zum Beispiel der weltberühmten Parabolica kaum noch durch aerodynamischen Abtrieb unterstützt wird. Die möglichen Kurventempi hängen mehr als sonst von der Leistungsfähigkeit der Rennreifen und dem mechanischen Grip ab, den Chassis und Fahrwerk generieren.
Der Große Preis von Italien aus der Sicht von
Michelin
„Das charakteristischste Merkmal von Monza sind die langen Geraden“,
bestätigt Pierre Dupasquier, der Motorsport-Direktor von Michelin. „Die
Autos erreichen Geschwindigkeiten von 360 km/h und mehr, was die Temperaturen
in den Pneus in die Höhe treibt. Dazu kommen noch sehr schnelle Kurven,
die insbesondere für die hinteren Reifen eine besondere Herausforderung
darstellen. Überraschenderweise treiben die Kurven den Reifenverschleiß
jedoch nicht außergewöhnlich in die Höhe, da der Asphalt vergleichsweise
sanft zu den Pneus ist. Diese seltene Kombination verlangt einen sehr spezifischen
Kompromiss für die Laufflächenmischung.“
Wie sich die Reifenfrage auf der Traditionsrennstrecke aus Fahrersicht darstellt,
erläutert Toyota-Pilot Ralf Schumacher: „In Monza wird der linke
Vorderreifen durch die schnellen Rechtskurven Lesmo 1 und Lesmo 2, aber vor
allem durch die Parabolica extrem belastet“, so der Deutsche. „Vor
allem eingangs der Kurve bietet die Parabolica wenig Grip. Für eine schnelle
Rundenzeit ist sie aber extrem wichtig, da sich die sehr lange Start-Ziel-Gerade
anschließt.“
Hinzu kommt: Auf der Jagd nach Zehntelsekunden beziehen die Fahrer die hohen Kerbs aggressiv in ihre Ideallinie mit ein. Dabei muss nicht nur das Fahrwerk enorme Kräfte absorbieren, auch die Rennpneus federn über ihre Flanken einen großen Teil der einwirkenden Energie ab. „Für ein modernes Formel 1-Auto kommt dies der Maximalstrafe gleich“, stöhnt Pat Symonds, der Chefingenieur des Renault F1-Teams.
Gleichzeitig ist für die Stabilität beim Herunterbremsen und beim Kurvenfahren eine eher steife Konstruktion erforderlich. „Aufgrund des verringerten aerodynamischen Abtriebs bremsen die Fahrer auf dieser Strecke früher als auf anderen Kursen“, ergänzt Pierre Dupasquier. „Das bedeutet für uns, dass unsere Reifen ihren Grip möglichst gleichmäßig entwickeln müssen, um eine bestmögliche Rückmeldung an den Piloten zu gewährleisten.“
Das erwarten die Partnerteams von Michelin
Fast alle Grand Prix-Rennställe haben sich frühzeitig zu ausführlichen
Testfahrten auf dem ebenso traditionsreichen wie außergewöhnlichen
Grand Prix-Kurs in Monza eingefunden. Zehn Tage vor Beginn des Großen
Preises von Italien schlug zum Beispiel das Renault F1-Team seine Zelte im Königlichen
Park auf. Dort feilte die „Equipe Jaune“ vornehmlich an der Aerodynamik.
Dass der Kurs Mensch und Material einiges abverlangt, ist Pat Symonds bewusst:
„In der ersten Schikane zum Beispiel müssen die Fahrer mit ihrem
Renault R25 brutal über die hohen Kerbs abkürzen“, so der Chefingenieur
der „Equipe Jaune“. „In den Lesmo-Kurven, der Ascari und Parabolica
wiederum ist Präzision gefragt, um die Michelin-Reifen nicht über
Gebühr zu strapazieren. Hier würde zu viel Einsatz eher schaden als
nutzen.“
Michelin-Partner McLaren-Mercedes hat in der Türkei den fünften Saisonsieg errungen und will bis zum Jahresende nun noch fünf weitere folgen lassen, um die letzten Chancen auf die WM-Titel zu wahren. „Am Ende der Saison könnten zwei Punkte die Weltmeisterschaft entscheiden“, ist sich Kimi Räikkönen bewusst.
Auch Toyota will in Italien seine Chancen nutzen. Testpilot Ricardo Zonta kennt die Strecke in- und auswendig: „Ich glaube, dass Toyota hier eher gut aussehen kann, als auf vielen der langsamen Strecken.“ Teamkollege Olivier Panis bestätigt die Stärken seines F1-Boliden: „Wir haben einen starken Motor, das sollte uns auf den langen Geraden in Monza helfen. Das TF104B-Chassis ist außerdem aerodynamisch verbessert, auch das wird ein Vorteil sein. Dank der Rennreifen von Michelin mit ihrer konstanten Leistungsfähigkeit sollten wir ohne Probleme Punkte holen.“
Das BMW WilliamsF1-Team blickt nach dem Totalausfall von Istanbul hoffnungsvoll gen Monza: Die Ursache für die Reifendefekte scheint gefunden. Sam Michael, Technischer Direktor des Münchner Rennstalls: „Williams und Michelin haben alle möglichen Variablen bezüglich Druck und Sturz durchgespielt sowie zusätzliche Belastungstests durchgeführt, um die Zustandsveränderungen während der Runde zu überprüfen. Beim Test in Monza kamen bereits verschiedene Karosserievarianten zum Einsatz. Sie stellen sicher, dass die Pneus keine Chance mehr haben, irgendetwas am Auto zu berühren.“
Jenson Button konnte in der Türkei erneut wertvolle WM-Punkte für Michelin-Partner BAR-Honda sammeln. Auf das verpatzte Qualifying folgte eine spektakuläre Aufholjagd - von Platz 13 auf Rang fünf. Dies hat den smarten Briten offensichtlich auch im Hinblick auf den kommenden Grand Prix in Monza beflügelt: „Ich habe das Rennen in Istanbul wirklich genossen“, bekennt der 25-Jährige. „Es war toll, sich durch das Feld nach vorne zu kämpfen. Wir sind den beiden Spitzenteams wieder etwas näher gekommen. Deshalb blicken wir Monza gespannt entgegen.“
Freuen darf sich auch Formel 1-Pilot Christian Klien, der beim Grand Prix von Italien erneut für Red Bull Racing ins Steuer greifen wird. „Obwohl wir das Qualifying in der Türkei als Erste beginnen mussten, konnten wir das Wochenende auf den Rängen sieben und acht beenden“, resümierte Teamchef Christian Horner. „Dadurch haben wir auch unsere Position in der Herstellerwertung verteidigt. Darum werden wir auch in den nächsten Rennen weiter hart kämpfen.“
Für Sauber-Petronas stellt der Große Preis von Italien eine Art Heimrennen dar: „Es gibt sicherlich viele Schweizer, die nach Monza pilgern, das hat Tradition“, erklärt Teambesitzer Peter Sauber. „Eine Prognose für das Rennen fällt mir jedoch schwer, denn es ist der einzige Hochgeschwindigkeitskurs im Formel 1-Kalender. Es wird sehr spannend zu sehen, welche Arbeit die Teams im Vorfeld dort geleistet haben.“ Der Wechsel zu Michelin hat sich für das Team bislang auf ganzer Linie bewährt: „Wir hätten ihn schon ein Jahr früher machen sollen.“
So lief der Große Preis von Italien 2004
Nach der erfolgsverwöhnten Scuderia Ferrari hieß der große
Gewinner des Grand Prix von Italien eindeutig BAR-Honda: Elf WM-Punkte sammelte
das Partner-Team von Michelin im Königlichen Park von Monza. Zugleich gewann
der Kampf um den Konstrukteurs-Vize-WM-Titel an Spannung: Mit Rang drei und
vier für Jenson Button und Takuma Sato konnte BAR-Honda in der Marken-Wertung
Renault F1 drei Rennen vor Saisonende von der zweiten Position verdrängen.
Während Rubens Barrichello vor seinem Ferrari-Teamkollegen Michael Schumacher
seinen ersten Saisonsieg feiern durfte, belegen mit Juan Pablo Montoya, David
Coulthard und Antonio Pizzonia Michelin-Piloten auch die Plätze fünf,
sechs und sieben.
Kommentar
Jacques Villeneuve (Sauber-Petronas): „Wenig Abtrieb“
„Monza gehört zu den Strecken, die ich am besten kenne: Dort fuhr
ich schon in der Formel 3. Die Rennleidenschaft der Fans sucht ihresgleichen,
das Rennen ist stets etwas Besonderes. Die Strecke unterscheidet sich stark
von anderen Rundkursen. Zwischen den Kurven liegen lange Geraden, auf denen
können wir Fahrer fast schon ein wenig entspannen. Die letzte Kurve, die
Parabolica, ist schnell, sehr lang und eine Schlüsselstelle, denn sie führt
auf die lange Start-Ziel-Gerade. Aus technischer Sicht brauchen wir den richtigen
Set-up-Kompromiss für superschnelle Kurven, optimale Top-Speeds, hohe Kerbs
und enge Schikanen. Monza ist die einzige Strecke, die nach wenig Abtrieb verlangt.“
Statistisches
Großer Preis von Italien, Autodromo Nazionale di Monza, 15. Lauf zur FIA-Formel
1-Weltmeisterschaft 2005 (4. September 2005); Renndistanz: 53 Runden à
5,793 km = 306,720 km.