• Die 300 PS des Mercedes-Benz SSKL ermöglichen eine Höchstgeschwindigkeit von 235 km/h
Als erster ausländischer Fahrer gewinnt Rudolf Caracciola das berühmte italienische Straßenrennen „Mille Miglia“. Er und sein Beifahrer Wilhelm Sebastian legen am 12./13. April 1931 die 1635 Kilometer in einem Mercedes-Benz Typ SSKL (Baureihe W 06 RS) mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 101,1 km/h zurück.
Start zum 1000-Meilen-Rennen von Brescia, 12. und 13. April 1931.
S. Exc.Turatti gibt das Startzeichen für Rudolf Caracciola und Beifahrer
Wilhelm Sebastian auf Mercedes-Benz Typ SSKL Rennsportwagen mit der Startnummer
87. Caracciolas Ehefrau Charly ist im Bild rechts am Wagen zu sehen.
Das Rennen
Das erste Automobilrennen auf der Strecke Brescia – Cremona –
Mantua – Brescia findet am 10. September 1899 statt. Doch die eigentliche
Geburtsstunde der Mille Miglia ist das Jahr 1927. Anfangs treten eine Handvoll
begeisterter Automobilisten im Großraum Brescia in Langstreckenrennen
gegeneinander an. Schließlich beschließen sie, die Strecke zu
verlängern und das Rennen mit immer längeren Teilstrecken auf drei
Etappen anzulegen; Wendepunkt soll Rom sein, die Gesamtstrecke 1000 Meilen
betragen. Der Name Mercedes-Benz ist seit 1930 untrennbar mit diesem berühmten
Rennsportspektakel verbunden: In jenem Jahr belegt Rudolf Caracciola am Steuer
seines SSK den 6. Platz. In den Jahren danach holt die Marke so manchen Sieg
– unvergessen ist die bis heute gültige Rekordzeit von Stirling
Moss/Denis Jenkinson auf Mercedes-Benz 300 SLR im Jahr 1955.
Charly Caracciola begrüßt ihren Mann Rudolf nach seinem
eindrucksvollen Sieg bei diesem Rennen. Rennleiter Alfred Neubauer ist im
Bild rechts zu sehen.
Die letzte „Mille Miglia“ nach altem Muster als Langstreckenrennen mit Zeitmessung wird 1957 gefahren. Doch 1977 lebt das Rennen wieder auf – als „Mille Miglia storica“; teilnehmen dürfen ausschließlich Fahrzeugtypen, die auch bei den Rennen bis 1957 dabei waren. Das schränkt den Teilnehmerkreis ein – aber Mercedes-Benz ist in jedem Jahr sehr gut vertreten, meist mit mehreren Autos.
Der Fahrer
Rudolf Caracciola wird am 30. Januar 1901 in Remagen geboren. Beide
Eltern sind begeisterte Motorsportler – und bereits im Alter von 15
Jahren darf er mit Sondererlaubnis den Führerschein machen. Seine mehr
als 30 Jahre währende Rennkarriere beginnt auf dem Motorrad. Mit 21 Jahren
gewinnt er 1922 das Rennen „Rund um Köln“, worauf ihn die
Fafnir-Automobilwerke als Werksfahrer zum AVUS-Rennen nach Berlin schicken.
Nach einem respektablen 4. Platz und einem bald darauf folgenden Sieg auf
einem Ego-Kleinwagen im Berliner Grunewald-Stadion bewirbt sich Caracciola
bei Daimler-Benz – und steigt zur Ära der Kompressor-Fahrzeuge
als Rennfahrer ein. 1923 fährt er als Werksfahrer auf dem Mercedes Tourensportwagen
6/25/40 PS in Baden-Baden sein erstes Rennen und erzielt noch im gleichen
Jahr elf weitere Siege. Insgesamt liest sich seine Erfolgsbilanz über
die Jahre eindrucksvoll: Sieg reiht sich an Sieg, es gibt kaum ein Rennen,
das er nicht gewonnen hätte. Seine Fähigkeit, auch bei schlechtem
Wetter schnell und sicher unterwegs zu sein, bringt im die Bewunderung seiner
Rennfahrerkollegen und den heimlichen Titel „Regenmeister“ ein.
Die Zeitläufe ermöglichen es, dass Caracciola zwei Rennepochen
miterlebt: Vor dem Zweiten Weltkrieg die Zeit der Kompressor-Motorboliden
mit ihrer schieren Kraft und danach den Siegeszug der deutlich feiner konstruierten
Fahrzeuge, die immer mehr zu einem sehr eng aufeinander abgestimmten Gesamtsystem
werden. Caracciola fährt beide Arten virtuos – bis ein Unfall seine
Rennkarriere beendet: Beim Großen Preis von Bern 1952 blockiert in der
13. Runde das linke Hinterrad seines Mercedes-Benz 300 SL, und er schleudert
gegen einen Baum. Sein linkes Bein wird zertrümmert, und er ist lange
auf Rollstuhl und Krücken angewiesen. 1956 erhält er von Daimler-Benz
die Aufgabe, das Haus zu repräsentieren und den Verkauf von Fahrzeugen
an die in Europa stationierten Amerikaner und Engländer zu leiten. Am
28. September 1959 stirbt Rudolf Carac
ciola im Alter von 58 Jahren in Kassel.
Das Auto
Die Kompressorfahrzeuge der Marke Mercedes nehmen erstmals Anfang
der 1920er Jahre in den Konstruktionsbüros der Daimler-Motoren-Gesellschaft
(DMG) – also noch vor der Fusion mit Benz & Cie. – ernsthaft
Gestalt an. Gottlieb Daimlers Sohn Paul, seit Wilhelm Maybachs Austritt aus
der DMG 1907 technischer Direktor und nun auch Vorstandsmitglied, treibt deren
Entwicklung voran. Erfahrungen mit der mechanischen Aufladung gibt es reichlich,
Flugmotoren und U-Boot-Aggregate bekommen bereits mit Hilfe von Kompressoren
eine höhere Leistung.
Der erste Rennwagen mit 1,5-Liter-Kompressormotor ist der Typ 6/40/65 PS, der 1922 bei der Targa Florio in Sizilien zum Einsatz kommt und, pilotiert von Werksfahrer Paul Scheef, einen achtbaren 3. Platz belegt. In der Serienklasse fährt Max Sailer beim gleichen Rennen den ersten Sieg auf einem Mercedes 28/95 PS heraus, dessen Motor für dieses Rennen mit einem Kompressor ausgerüstet ist und 140 PS leistet. Im Jahr 1924 kommen die ersten Mercedes-Rennwagen mit 2,0-Liter-Achtzylinder-Kompressormotor, entwickelt von Ferdinand Porsche, der von Austro Daimler als technischer Direktor zur DMG gekommen ist. Doch erst zwei Jahre später gelingt den Boliden ein Sieg bei einer renommierten Veranstaltung: Der damals 25jährigen Rudolf Caracciola gewinnt mit seinem Beifahrer Eugen Salzer das AVUS-Rennen, mit der bisher für schier unmöglich gehaltenen Durchschnittsgeschwindigkeit von 135 km/h.
Die nächste Generation der Mercedes-Benz Sportwagen sind die Typen K, S, SS, SSK und SSKL. Im Gegensatz zu den vorher eingesetzten reinrassigen Rennwagen sind diese neuen Autos als sportliche Straßenfahrzeuge konzipiert. Zwischen 1926 und 1933 sind die im Volksmund „Weiße Elefanten“ genannten und mit einem aufgeladenen Sechszylinder-Motor ausgestatteten Wagen sowohl auf normalen Straßen als auch auf den Rennpisten der Welt das Maß der Dinge. Wohlhabende Herrenfahrer finden in diesen Automobilen die idealen Werkzeuge für das Kräftemessen bei Rennveranstaltungen jeglicher Art, die seinerzeit noch mehr als heute gesellschaftlich von höchster Bedeutung sind.
Rudolf Caracciola und Beifahrer Wilhelm Sebastian am Ziel mit Mercedes-Benz
Typ SSKL Rennsportwagen in Brescia. Zum ersten Mal wurde ein Ausländer
Gesamtsieger dieses berühmten italienischen Rennens.
Die Entwicklung gipfelt schließlich im Typ SSKL, den auch Caracciola im April 1931 bei der Mille Miglia fährt. Er basiert auf dem SSK, der einen kurzen Radstand hat und damit sehr leicht und wendig ist. Der SSKL ist noch einmal leichter – dafür steht das „L“ in der Typenbezeichnung –, er wiegt rund 1350 Kilogramm. Das ist nicht viel Masse für den Kompressor-Sechszylinder mit 7065 Kubikzentimeter Hubraum und einer Leistung von 300 PS: Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei beachtlichen 235 km/h. Die letzte Evolutionsstufe des Respekt einflößenden SSKL geht beim Berliner AVUS-Rennen 1932 an den Start. Privatfahrer Manfred von Brauchitsch lässt den Rennwagen in Eigenregie mit einer Stromlinien-Karosserie versehen und siegt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 194,2 km/h.