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• Das neue Reifenreglement
• Die Auswirkungen auf die Grand Prix-Wochenenden
• Die Aufgaben der Reifeningenieure
• Die Boxenstopp-Taktik
Wettkampf der Gehirne
Nach einem Jahr Pause gehören Boxenstopps in der Formel 1-Saison 2006 wieder fest zur Dramaturgie eines jeden Grand Prix: Der Motorsport-Weltverband ändert das erst vor Jahresfrist aus Kostengründen eingeführte Reglement und lässt Reifenwechsel während der Rennen wieder zu. Dies erlaubt - auch dank des neuen Qualifying-Modus - unterschiedlichste Strategien, die die Spannung der Grands Prix erhöhen sollen. Eines steht bereits jetzt fest: Die Wahl der Formel 1-Pneus gehört auch weiterhin zu den wichtigsten Parametern der Taktik.


Mit Volldampf in die neue Formel 1-Saison: Änderungen im Reifenreglement und ein neues Qualifying-Format sollen für zusätzliche Dynamik und Spannung.

Die Formel 1 gibt ab März 2006 wieder Vollgas - auf den Verschleiß ihrer Rennpneus zumindest müssen die Grand Prix-Piloten dank des Comebacks der Reifenwechsel kaum noch Rücksicht nehmen. Ganz im Gegensatz zur Vorsaison: 2005 veränderte die Bestimmung, dass die Fahrer das Qualifying und auch die komplette Renndistanz mit ein und demselben Satz Rennpneus absolvieren müssen, den Charakter der einzelnen Saisonläufe gravierend. Denn mit dem Potenzial und der Ausdauer der Wettbewerbs-Reifen verhält es sich wie mit der Füllung des Benzintanks: Es ist endlich. Wer sich die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen falsch einteilte, geriet in Schwierigkeiten: Werden die Pneus überstrapaziert, bauen sie zwangsläufig gegen Ende des Rennens ab - der Fahrer wird langsamer und büßt wichtige Plätze ein. Eine Problematik, mit der die Michelin-Fahrer und -Teams offensichtlich weniger zu kämpfen hatten als ihre vom Wettbewerber ausgerüsteten Kollegen, wie das WM-Ergebnis und auch der Verlauf fast aller Saisonläufe hinlänglich dokumentierte.

Grands Prix als Aneinanderreihung von Sprint-Rennen

Durch die Revitalisierung des 2004er-Reifen-Reglements spielt nachhaltiges Wirtschaften im neuen Formel 1-WM-Jahr keine allzu große Rolle mehr: Der reine Speed, die optimale Schnelligkeit der Rennreifen tritt wieder in den Vordergrund. Statt über eine Distanz von 350 Kilometern müssen die Grand Prix-Pneus ihre volle Leistungsfähigkeit fortan nur noch in Ausnahmefällen über mehr als 100 Kilometer unter Wettbewerbsbedingungen unter Beweis stellen.

Wie gehabt, müssen sich die Grand Prix-Piloten auch 2006 wieder bei jedem Rennen zwischen zwei Reifen-Alternativen entscheiden. Dabei stehen sie vor einem grundsätzlichen Dilemma: Jener der beiden zur Verfügung stehenden Pneu-Typen, mit dem sie während des Qualifyings über ihren Startplatz entscheiden, muss auch im Rennen aufgezogen werden. Klar, dass der weichere „Compound“ - so eine grobe Faustregel - auf einer schnellen Runde einen Vorteil von gut einer Zehntelsekunde pro Kilometer bringt. Nachteil: Dieser Reifentyp zeichnet sich im Rennen zumeist durch einen etwas höheren Verschleiß aus, der unter Umständen einen zusätzlichen Boxenstopp nötig macht. Auf der anderen Seite bietet dieser Extra-Besuch beim Team den Vorteil einer durchschnittlich leichteren Spritladung.

Dabei könnte alles so einfach sein. Denn Teamchefs, Ingenieure und Fahrer stellen an die Reifen ihres Rennwagens prinzipiell nur eine Anforderung: Er soll so konkurrenzfähige Rundenzeiten wie nur möglich erlauben. Doch ein Pneu, der auf einer einzelnen schnellen Qualifying-Runde das Optimum darstellen kann, taugt nicht unbedingt für die vielfach längere Renndistanz, wenn der Rennwagen mit vollen Tanks ungleich schwerer startet. Ein anderes Beispiel: Wählt ein Grand Prix-Pilot im Rennen eine flache Flügelstellung, die ihm wegen höherer Top-Speed das Überholen erleichtert, könnte der Preis dafür in geringerer Kurvenhaftung und entsprechend stärkerem Reifenverschleiß bestehen - die Variablen in der Formel 1 sind diesbezüglich schier unendlich.

Das Wichtigste ist: Der Rennwagen muss das Potenzial der Reifen ausschöpfen

Aus Reifensicht betrachtet resultiert der pure Speed aus zwei Faktoren: Möglichst hoher Grip in Kurven und optimale Traktion in der Beschleunigungssphase sowie beim Bremsen. Eigentlich ein Fall für einen besonders weichen Laufflächen-„Compound“ - kombiniert mit stabilen Reifenflanken, um die immensen Quer- und Längsbeschleunigungen bei Kurvenfahrt beziehungsweise beim Verzögern aufzunehmen. Doch da das Rennen mit demselben Pneutyp gefahren werden muss, mit dem auch das Qualifying bestritten wurde, kann auch die härtere der zwei erlaubten Reifenvariante die richtige Wahl darstellen.

Um so viel wie möglich über das Verhalten der zwei verschiedenen Pneusorten auf der jeweiligen Piste zu lernen, nutzen die Teams deshalb die freien Trainingssitzungen am Freitag zu akribisch durchgeführten, wissenschaftlich anmutenden Testreihen. Jene Rennställe, die das Formel 1-Jahr 2005 auf den Rängen fünf bis zehn der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft beendeten, dürfen sich dabei ebenso über einen besonderen Vorteil freuen wie Grand Prix-Neuling Super Aguri: Sie können während der ersten beiden Trainingssitzungen am Freitag einen dritten Wagen einsetzen. Mit dem ergründen 2006 die Test- und Reservefahrer der Teams BAR-Honda, Red Bull, BMW Sauber F1, Midland F1 (vormals Jordan) und Toro Rosso (vormals Minardi) im Rahmen so genannter „Long runs“ über längere Distanzen die Abnutzung der Reifen. Die Grand Prix-Piloten selbst werden nur so viele Runden wie unbedingt nötig drehen: Auch die erstmals verbindlich vorgeschriebenen Achtzylindermotoren müssen wie ihre V10-Vorgänger zwei komplette Rennwochenenden absolvieren. Jeder zusätzliche Kilometer erhöht das Risiko eines Defekts.

Die Arbeit der Reifeningenieure bestimmt über die Wettbewerbsfähigkeit

Die Fragen, die die Teams dabei beantworten müssen, stellen sich mannigfaltig: Bietet die Fahrbahnoberfläche viel oder wenig Haftung, wirkt sie aggressiv auf den Reifen oder hat sie vielleicht gegenüber dem Vorjahr - etwa durch einen neuen Belag - ihren Charakter verändert? Auch das grundsätzliche Layout der Rennstrecke bestimmt über die mitgebrachten Mischungen: Besitzt sie lange Geraden, schnelle Kurven oder enge Kehren?

Trotz der sorgfältigen Vorauswahl: Erst die Arbeit der Reifeningenieure mit den Teams an der Strecke bestimmt über die Wettbewerbsfähigkeit im Rennen. Schritt für Schritt lösen sie die Gleichung mit vielen Unbekannten. So ändern beispielsweise Abweichungen beim Luftdruck schon im Zehntel-bar-Bereich das Verhalten des Pneus entscheidend. Um den Druck auch dann konstant zu halten, wenn der Fahrer den Reifen auf der Strecke hart fordert, sind sie statt mit Luft mit Stickstoff befüllt.

Ein ähnliches Puzzlespiel stellen die unzähligen Einstellungsmöglichkeiten von Radsturz, Spur oder Federn- und Dämpferraten dar, die - ebenso wie der individuelle Fahrstil - für den Aufbau der notwendigen Betriebstemperatur des Reifens und den Verschleiß verantwortlich zeichnen. Auch die jeweilige Asphalttemperatur spielt eine Rolle. Ein eher „weiches“ Set-up beschert den Formel 1-Boliden gute Traktion aus engen Kehren heraus - wie etwa in Monaco vonnöten, wo die Aerodynamik angesichts der vergleichsweise geringen Geschwindigkeiten kaum aushelfen kann. Auf „härter“ setzen die Techniker, wenn das Verhalten der Grand Prix-Renner in schnellen, lang gezogenen Kurven stabilisiert werden soll - Barcelona gilt als Musterbeispiel einer solchen Piste.

Kampf der Strategen - die Boxenstopp-Taktik
Oft genug werden Rennen durch intelligentes Timing der Boxenstopps gewonnen - sofern im Training das optimale Zeitfenster für den Reifenwechsel und das Nachtanken ermittelt wurde. Dazu müssen die Ingenieure wissen, wann der Pneu seine optimale Leistungsfähigkeit entwickelt, wie lange er diese Performance bewahrt und wie er sich mit unterschiedlich schweren Spritladungen verhält. Steht die grundsätzliche Fahrwerks-Abstimmung, das Basis-Set-up, müssen alle diese Varianten durchgespielt werden.

Hält der Reifen über eine lange Distanz, kann es sinnvoll sein, mit vollen Tanks ins Rennen zu gehen und den einzigen - und dann besonders kurzen - Pitstop auf einen möglichst späten Zeitpunkt zu legen. Auf abriebsintensiven Pisten versuchen die Formel 1-Strategen häufig, den erhöhten Reifenverschleiß zur Tugend zu machen: Zwei oder gar drei Boxenhalte zerlegen den 300-Kilometer-Grand Prix in drei oder vier Sprintrennen, die mit jeweils frischen Pneus und wenig Benzin voll am Limit gefahren werden können. Eine Strategie, die durch den seit 2003 gültigen Qualifying-Modus - Reifen und Tankfüllung bleiben bis zum Rennstart unverändert - noch charmanter erscheint. Doch wie auch immer: Es verlangt viel technisches und strategisches Verständnis vom Reifenhersteller, diese Szenarien abzusehen und den Teams am Rennwochenende durch Bereitstellung des entsprechenden Materials flexible Strategien zu ermöglichen.

Nicht zuletzt entscheiden sich Regenrennen - die sich in den vergangenen Jahren oft als regelrechte Krimis entpuppten - über gekonnte Reifenwechsel-Strategien. Der viel zitierte „Regenpoker“ funktioniert aber nur dann, wenn ein Fahrer genau weiß, wie lange er mit seinen Trockenreifen bei nasser Fahrbahn konkurrenzfähig bleibt - zumal diese Pneus angesichts der vier vorgeschriebenen Längsrillen einen gewissen Drainage-Effekt erfüllen. Wer auf Regengummis wechselt, kann wiederum auf abtrocknender Piste schwer in Bedrängnis geraten: Ohne kühlendes Wasser auf der Strecke neigen diese Reifen zum Überhitzen und vorzeitigen Altern.

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