In der Formel 1 werden ab der Saison 2006 V8-Motoren statt wie bisher üblich
Zehnzylinder eingesetzt. Wie wirkt sich diese Regelung auf die Reifen aus?
Nick Shorrock: Auf Grund der geringeren Geschwindigkeiten ist die Last
auf die Pneus auf den Geraden niedriger als zuvor. Außerdem müssen
die Piloten ihren Fahrstil den etwas schwächeren Motoren anpassen, deswegen
werden die Autos möglicherweise mehr rutschen als zuvor. Die Testfahrten
bisher haben aber gezeigt, dass die in Quer- und Längsrichtung einwirkenden
Kräfte mit den Werten aus dem Vorjahr fast übereinstimmen.
Ziel vor Augen: Nick Shorrock will sich mit Michelin erfolgreich aus
der Formel 1 verabschieden
Wird Michelin durch den Einsatz von leichteren Motoren mit weniger Kraft
wiechere Reifenmischungen wählen?
Shorrock: Am Anfang - als wir dachten, dass die Autos mehr rutschen würden
- war uns nicht klar, ob wir weichere Pneus aufziehen können. Bei den
Testsessions haben wir allerdings bemerkt, dass die Tendenz gegenüber
dem Vorjahr zu weicheren Mischungen geht.
Das neue Regelwerk in der Formel 1 soll für geringere Kurvengeschwindigkeiten
sorgen. Wirken weichere Reifenmischungen diesem Ziel nicht entgegen?
Shorrock: Generell scheinen die Rundenzeiten in diesem Jahr etwas langsamer
zu sein als noch 2005. Doch in manchen Kurven dürften die Autos schneller
werden. Der Grund für diese Entwicklung liegt aber nicht nur bei besseren
und weicheren Reifen, sondern auch an den Fahrzeugen selbst. Die V8-Motoren
benötigen weniger Kühlung als die Zehnzylinder-Aggregate, was der
Aerodynamik neue, effizientere Lösungen ermöglicht.
Schwerstarbeit: Alleine für die Wintertests produziert Michelin
16.000 Formel 1-Reifen
Wie stark weichen die Rundenzeiten im Jahr 2006 von denen des Vorjahres
ab?
Shorrock: Das kommt ganz auf die Strecke an. Auf High-Speed-Kursen beispielsweise
wird sich die Neuregelung deutlich stärker auswirken. Im Moment liegt
der Unterschied bei rund 2,5 Sekunden, doch dieser Abstand kann sich im Laufe
der Saison noch verringern, weil die Ingenieure ihre Autos weiter verbessern.
Wie ist Michelin die Saison 2006 angegangen? Musstet ihr von Null anfangen
oder konntet ihr auf die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren aufbauen?
Shorrock: Wir mussten nicht bei Null starten. Vergangene Saison haben
wir viele Neuentwicklungen eingeführt - insbesonders was die Sicherheit
der Reifen betrifft. Diese Erfahrungswerte können wir uns auch 2006 zu
Nutze machen. Außerdem haben wir uns einige Mischungen aus dem Jahr
2004 näher angeschaut, die damals zwar nicht optimal funktionierten,
unter den neuen Bestimmungen aber sehr vielversprechend erscheinen. Zur Zeit
befinden wir uns immer noch in der Analyse. Aber ich bin mir sicher, dass
wir noch einige Evolutionsstufen präsentieren können. Zu Beginn
der Wintertests wollten wir erst einmal herausfinden, wo wir stehen. Von dort
an haben wir unsere Pneus stetig weiterentwickelt und werden zu guter Letzt
die Reifenwahl für die ersten Grands Prix des Jahres festlegen.
Michelin dominierte die Saison 2005. Was erwartet ihr von eurem Mitstreiter
in diesem Jahr?
Shorrock: Es wäre schon eine Ausnahme, wenn wir unseren überlegenen
Erfolg aus dem Vorjahr wiederholen könnten - zumal die Verteilung zwischen
den Reifenlieferanten in diesem Jahr deutlich ausgeglichener ist. Realistisch
gesehen rechnen wir in dieser Saison mit starker Konkurrenz. Es ist keine
leichte Aufgabe, aber wir werden unseren Partnern das bestmögliche Material
zur Verfügung stellen. Wir starten selbstbewusst in das neue Jahr und
gehen davon aus, auch 2006 wieder zu den Siegern zu zählen.
Immer auf Achse: Die Trucks mit Bibendum-Aufkleber pendeln im Winter
zwischen Clermont-Ferrand und Südspanien
Hat sich die Arbeitsweise von Michelin mit seinen Partnerteams verändert?
Shorrock: Überhaupt nicht. Jeder Mitarbeiter erfüllt seine Aufgabe
in der gewohnt professionellen Art und Weise. Diese Herangehensweise zeichnet
uns seit dem Wiedereinstieg in die Formel 1 sowie in allen anderen Motorsport-Disziplinen
aus. Der Informationsaustausch zwischen uns und den Formel 1-Teams geschieht
auf einer sehr offenen Basis. Wir arbeiten hervorragend zusammen, um die gewonnenen
Daten schnellstmöglich auszuwerten. Die Partnerschaften sind sehr produktiv,
es entsteht sogar ein richtiger Teamgeist.
Zu welchem Zeitpunkt hat die Herstellung der Pneus für die Saison 2006
begonnen?
Shorrock: Im November. Denn die FIA hat das endgültige Regelwerk,
das die Wiedereinführung der Reifenwechsel beinhaltet, erst am 24. Oktober
endgültig bestätigt.
Wie viele Reifen hat Michelin für die Wintertests produziert?
Shorrock: Ungefähr 16.000. Das sind rund 2.000 für jede der
acht großen Testsessions. Im Moment probieren wir bei jedem Test vier
bis fünf verschiedene Konstruktionen und fünf bis sechs Mischungen
auf der Rennstrecke aus.
Habt ihr die Reifenwahl für die ersten Saisonrennen bereits abgeschlossen?
Shorrock: Unsere erste Aufgabe bestand darin, Reifen zu entwickeln, die
zu den 2006er Autos passen. Die Pneus müssen eine konstante Performance
besitzen und gleichzeitig zuverlässig funktionieren sowie eine gute Balance
ermöglichen. Momentan arbeiten wir daran, die perfekten Laufflächenmischungen
für die einzelnen Strecken zu finden. Das wärmer werdende Wetter
im Süden von Spanien kommt uns dabei entgegen, für Bahrain und Malaysia
die richtige Entscheidung zu treffen. Obwohl wir dank unserer reichhaltigen
Erfahrung auch bei kalten Streckenbedingungen sehr gute Prognosen anstellen
können.
Wissenstransfer: Nick Shorrock (zweiter von rechts) steht im ständigen
Dialog mit seinen Kollegen aus Clermont-Ferrand
Michelin zieht sich nach der Saison 2006 aus der Formel 1 zurück. Wie
wirkt sich der Ausstieg auf euer Entwicklungsprogramm aus?
Shorrock: Überhaupt nicht. Wir arbeiten genauso zielstrebig wie in
den vergangenen Jahren. Ein kleiner Vorteil besteht sogar darin, dass wir
uns bei der Entwicklung ausschließlich auf die aktuelle Saison konzentrieren
können, da wir uns nicht mehr um langfristig angelegte Formel 1-Projekte
kümmern müssen.
Wie stehen die Mitarbeiter von Michelins Motorsport-Abteilung zum Ausstieg
aus der Formel 1?
Shorrock: Die Formel 1 gilt als Königsklasse des Motorsports. Seit
dem Wiedereinstieg 2001 konnten wir unsere Leistungsfähigkeit auch auf
höchster Ebene unter Beweis stellen - insbesondere im vergangenen Jahr.
Natürlich bedauern sie den Rückzug aus dem Grand Prix-Sport, aber
sie verstehen auch die Gründe für die Entscheidung von Michelin.
Außerdem stehen allen Formel 1-Mitarbeitern im nächsten Jahr komplett
neue, spannende Herausforderungen bei Michelin bevor. Unsere Motivation ist
so groß wie schon immer.